Zeitvertreibung oder die Kunst, einen nutzlosen Tag zu überstehen
Die schlimmste Form des Wartens ist das Warten auf ein Ereignis, das alles ändern wird, aber von dem man nicht weiß, wann es genau eintritt. Man kann nur darauf warten, bis sich entscheidet, wie man den weiteren Tag verbringt. Es war etwas schief gelaufen. Schon am frühen Morgen erhielt ich den Telefonanruf und dann war nicht klar, ob ich meine geplante Aufgabe hier noch erledigen sollte und die nächsten beiden Tage auch, oder ob die Aufgabe komplett verschoben werden würde und ich – am besten heute noch – wieder zurück fahren muss.
Jeden Moment kann man in so einem Fall mit dem Anruf rechnen, der die Entscheidung bringt. Genausogut wie um einen Moment kann es sich aber auch um Stunden handeln. Jede Planung für eine Tätigkeit, die längere Zeit in Anspruch nimmt oder ein bisschen Ruhe oder Konzentration bedarf, ist also zwecklos. Quälend auch vor allem der Gedanke, dass ich mir die Langeweile, zu der ich jetzt verdammt war, nicht selbst gewählt hatte. Sonst hätte es auch schön entspannend sein können. Ich hatte sie mir nicht einmal selbst versehentlich eingebrockt.
Gut, im Hotelzimmer hatte ich W-Lan, also einfach die Zeit mit ein bisschen im Internet rumlesen tot schlagen, eine dem Rumhängen verwandte Tätigkeit mit etwas höherem Unterhaltungswert. Leider gabs wenig Neues heute morgen. Sicher, die Absicht jemanden tot zu schlagen – und sei es nur die Zeit – gehört unmittelbar bestraft. Ich fand noch den ein oder anderen Artikel oder Forenbeitrag, den ich gestern – ohne Langeweile – noch verschmäht hatte. Das dauerte aber nicht lange.
Schließlich entschloss ich mich ins Museum zu gehen, das gleich neben dem Hotel lag. Bei Anruf konnte ich den Besuch ja schnell abbrechen. Alte Meister fand ich gar nicht mal so interessant. Aber besser irgendetwas anzuschauen als dumpf aus dem Fenster zu sinnieren mit einer Aussicht (abrissreifes Hochhaus, siehe Foto), die auch in einer weniger novemberartig depressiven Wetterstimmung nicht viel an Anmut gewonnen hätte.
Gegen die etwa 500 Jahre, die die Dame auf dem Gemälde schon aus ihrem Portrait heraus untätig, ja regungslos in den jeweiligen Ausstellungsraum starrte, war meine Zeit, in der ich auf sie zurück starrte, verschwindend kurz. Das war jedoch wenig tröstlich, denn wer immer versucht hat, sinnlos die Zeit zu vertreiben, wird bemerkt haben, dass jene, also die Zeit, auf das Getriebenwerden mit Trotz reagiert. Sie zieht sich noch mehr in die Länge. Leider wird man ihr das niemals als böse Absicht nachweisen können, weil hier alle Uhren einhellig mit der Zeitverschwörung kollaborieren.
In keinem anderen Moment, so scheint es mir, führt einen der Orientierungssinn immer wieder an dieselbe Stelle, die man – gähn – schon 3 Mal gesehen hat, wie wenn einem ohnehin langweilig ist. In ihrem Trotz gegen den Versuch, sie voran zu treiben, gönnt die Zeit einem keine Abwechlung, die möglicherweise das zäh kriechende Zeitempfinden ein wenig beschleunigen könnte. An diesem Cranach bin ich auf jeden Fall schon mehrfach vorbei gekommen und die wiederholte Betrachtung macht es nicht interessanter. Selbst die Suche nach noch nicht gesehenen Räumen bringt keine Spannung, obwohl Suche an sich auch spannend sein kann. Die Zeit scheint also die Macht zu besitzen, den Orientierungssinn zu beeinflussen und ihn für die Rache am Getriebenwerden zu instrumentalisieren.
Ist man an der Notwendigkeit des Zeitvertreibs nicht schuldlos, lässt sich die Zeit – interessanter Weise – viel besser überlisten. Hat man sich für den Tag etwa die Erfüllung unliebsamer Pflichten vorgenommen, die allerdings nicht dringend erledigt werden müssen, findet man das Internet garantiert voll mit hochinteressanten Artikeln und Diskussionen. Die Nachbarin, die zufällig vorbei kommt, hat immer noch viel Zeit zum Plaudern und plötzlich fallen einem auch noch viele andere Tätigkeiten ein, die dringend – und wenn nicht jetzt, wann dann? – erledigt gehören. Kaum hat der Tag begonnen, ist er auch schon wieder vorbei.
Seltsam auch, dass einem die Nutzlosigkeit der eigenen Existenz an solchen Tagen überhaupt nicht gewahr wird, im Gegensatz zu einem Tag wie heute, an dem ich mit Sicherheit mit der Gewissheit, den gesamten Tag sinnlos verschleudert zu haben, nicht einschlafen kann. Wieso sollte ich auch müde sein und diesem nutzlosen Tag ein gnädiges Ende bereiten dürfen, ich hatte den ganzen Tag ja nichts getan.
Besonders die schönen Momente im Leben sind oft sehr kurz. Beim Ausführen einer sinnvollen, erfüllenden Tätigkeit kann man sogar Zeitlöcher erleben, in denen die ein oder andere Stunde unmerklich verschwindet. Die Zeit läuft also der menschlichen Psychologik völlig zuwider, denn Zeitlöcher wären eher in langweiligen Momenten sinnvoll und gerade nicht in schönen oder erfüllenden. Dafür bleiben die schönen Momente aber gerne lange in Erinnerung, um an so nutzlosen Tagen wie heute immer wieder kurz als ehrwürdiges Gegen-Beispiel aufzuleuchten und den nutzlosen Zeitvertreib im Vergleich noch schäbiger erscheinen zu lassen. Ja, ganz gewiss, schon morgen werde ich alles wieder gut machen und mich sinnvoll beschäftigen!
Nein meistens ist die Zeit nicht unser Freund, wenn dann meine Zeit gekommen ist, ist es dann auch schon so weit, das Zeitliche zu segnen, bevor man mit seiner Zeit so richtig was anfangen konnte. Zeit wird gestohlen, ohne dass man sie wieder erlangen kann und eine angemessene Entschädigung lässt sich für Zeitdiebstahl in der Regel auch nicht einklagen. Wir haben keine Zeit, wenn wir sie dringend brauchen können und quälend zu viel davon, wenn wir sie nicht brauchen.
Auch wenn uns das Leben dazu auserwählt hat, in drei Dimensionen zu leben, sind wir mit unserer Natur Fläche und Raum viel besser angepasst – man kommt damit zurecht – als an das seltsame Wesen der Zeit. Und lauscht man den Erkenntnissen der Physik, wird sie uns noch weniger verständlich: Die Zeit für uns auf der Erde soll angeblich annähernd gleich sein, obwohl wir sie in verschiedenen Momenten merklich als kürzer oder länger empfinden. Wir brauchen Uhren, um uns von der richtigen Uhrzeit zu überzeugen, weil uns ein verlässliches Gespür dafür fehlt. Dennoch wird Zeit nicht wie Temperatur in absolut versus relativ (oder gefühlt) gemessen, obwohl sie physikalisch betrachtet, nach jetziger Erkenntnis tatsächlich relativ ist.
Ich habe übrigens schon damit angefangen, alles wieder gut zu machen. Sitze im Zug, auch das eher nutzlose Zeit, aber man weiß weigstens, wie lange sie mindestens dauert (höchstens ist nicht ganz so gewiss wie es der Zugplan selbstbewusst als Gewissheit verspricht). Ich schreibe einen Blogartikel über Zeitvertreib, mache vielleicht gleich noch eine Zeichnung dazu und hoffe, dass nicht nur ich mir damit gelungen die Zeit vertrieben habe, sondern auch dem ein oder anderen Zeitvertreiber, der diesen Artikel liest. (übrigens gibt’s hier noch mehr Artikel im Blog, die sich zum Zeitvertreib eignen, hab ich heute morgen selbst ausprobiert!)
… und sollte ich doch Ihre wertvolle Zeit gestohlen haben, weil Sie sich von der Überschrift mehr Kurzweil versprochen hatten, als der Text einlösen konnte, bitte ich zumindest dafür nachträglich um Entschuldigung.
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