Fremde Blicke
Zur Entstehung eines Kunstobjekts
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“Fremde Blicke” nennt Herta Müller (Schriftstellerin) die Betrachtungsart alltäglicher Dinge, bei der man so schaut, als sähe man diese Dinge zum ersten Mal und kenne sie noch nicht. Manchmal muss man das beiläufig Selbstverständliche nur lange und intensiv genug anschauen, damit es von selbst in ein fremdelndes “Was ist das eigentlich?”- Ding kippt.
In diesem Fall war es ein Automat zum Ziehen von Wartemarken im Einwohnermeldeamt, der sich durch meine lange Betrachtungsgelegenheit beim Warten automatisch in ein solches “Was ist das eigentlich?”- Ding umwandelte. Ich wühlte einen Fetzen Papier und einen Kugelschreiber aus der Tasche und hielt die Ansicht in einer Skizze fest. Details ließ ich bewusst weg. Später erforschte mein neugierig fremder Blick das Ding aus der Nähe und von den anderen Seiten aus betrachtet. Ein höchst seltsames “Was ist das eigentlich?”- Ding, so ein Wartemarkenautomat, wenn man ihn mal genauer betrachtet!
Jeder Forscher weiß, dass ein einzelnes “Was ist das eigentlich?”- Ding nur etwas über dieses einzelne Ding offenbaren kann. Will man aber ein Wesenhaftes ergründen, bei dem dieses einzelne “Was ist das eigentlich?”- Ding nur Vertreter einer Gruppe verwandter Dinge ist, die in ihrem Ganzen etwas über die Kultur, in der man lebt, verkörpern, dann muss man als nächstes nach weiteren Vertretern dieser Dingsammlung Ausschau halten. In den folgenden Tagen schaute ich mich also an mehr oder minder ähnlichen Orten um und zeichnete Fahrkartenautomaten, Paketabholstationen, Parkuhren und Zigarettenautomaten. Ich experiskizzierte mit den “Was ist das eigentlich?”- Dingen, indem ich in den Zeichnungen und später Modellen dies umformte und das betonte, jenes vereinfachte, dies überspitzte und dieses kombinierte und jenes vervielfachte oder weg ließ und immer wieder die Skizzen im Vergleich betrachtete.
Nach einer Weile drüber nachzeichnen fiel mir beim fremdelnden Anschauen der experiskizzierten Entwürfe auf, dass all diese “Was ist das eigentlich?”- Dinge tatsächlich etwas Wesentliches gemeinsam hatten: Man gab eine Art Zutat hinein, z.B. eine Münze, bediente verschiedene Knöpfe oder Hebel und da drinnen braute sich klikkernd und klakkernd oder piepsend und blinkend etwas zusammen und verwandelte die Zutaten in ein Paket, eine Fahrkarte … oder manchmal auch bloß in eine Wartemarke. Hatte es nicht etwas Magisches, eine alchemistisch-kryptische Geheimnisschaft, mit der dort im nicht durchschaubarem Innern eine Umwandlung vonstatten ging?
Und waren wir, die Bediener der Automaten, es nicht sogar selbst, die einer Verwandlung unterzogen wurden im Moment des Bedienrituals? Da wurden Personen zu Parkern, ehrbare Bürger in willkommene Fahrgäste oder kriminelle Schwarzfahrer gespalten und aus Namen Nummern im Zuteilungsraum einer imaginären Warteschlange: B 543 oder war´s 34? Das kleine unscheinbare Warteautomatending hatte sogar die Macht, mich beständig auf die Zahlen der großen Nummerntafel an der Wand starren zu lassen, die ich fast neurotisch immer wieder mit der Zahl auf meinem kleinen Zettel verglich … bis zur Erlösung … zur Rückwandlung aus meiner Wartenummern-Identität.
Ich schaute und skizzierte angestrengt um alle Ecken, um die es sich umgestalten ließ und als ich Personen zeichnete, wie sie mit oder an den Automaten handelten in ritueller Gleichförmigkeit des nötigen Bedienungsablaufs, war mir fraglich, wer hier eigentlich Bediener und wer Bedienter war. Nötigen uns solche Automaten nicht ihr Handlungsprogramm auf, das wir bereitwillig und in exakter Reihenfolge nachvollziehen müssen? Aber Halt! Warum beschweren wir uns nicht über diese Bevormundung? Ich schaute noch einmal genau hin und skizzierte. Weil sie unscheinbar in Ecken stehen, im Vorbeigehen bescheiden selbstverständlich auf sich unaufmerksam machen, uns keine Befehle entgegen brüllen, sondern stattdessen höflich “bitte” und “danke” blinken und uns schon gar nicht mit einer Waffe bedrohen: “Passendes Geld einwerfen, oder Leben!”. Sie sind Inbegriffe typischer Sachzwänge, bei denen wir dazu neigen, der Sache die Rolle als Akteur nicht zuzuerkennen und daher übersehen, wer hier auf wen Handlungsmacht ausübt.
Das fertige Kunstwerk, das als epistemisches Objekt (B. Latour) die Erkenntnisse meines künstlerischen Forschungsprozesses zeigte, war schließlich ein unscheinbarer grau lackierter Kasten aus Holz, ein Durchwurfkasten, bei dem das magische Ritual auf das geringst nötigste reduziert war: Man kann ein Blatt Papier oben hinein werfen, damit es unten einfach wieder heraus fällt. Das Magische, das meist durch die praktische Funktionalität von Automaten – wie das Fahrkartekaufen – verschleiert wird, wurde durch Eliminieren der Funktion betont, sodass ein reiner Verwandlungs-Apparat übrig blieb, der blöd Sinnloses vom Handelnden verlangt. Doch ist das Blatt Papier, nachdem es durch die Dunkelheit des Durchwurfkastens gerutscht ist, tatsächlich immer noch dasselbe Blatt Papier?
Dieser Artikel zur Entstehung eines Kunstobjektes, bzw. zur “herkömmlichen” künstlerischen Forschung erschien im Mai 2011 in der “anders”, Zeitschrift für psychologische Morphologie.
Kreativtechnik zum “fremden Blick”
Den “fremden Blick” kann man auch mit einer Kreativtechnik üben, siehe die Technik “Papalagi” (an zweiter Stelle in der Liste)
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