Visual Thinking
Seit einigen Tagen steht vor dem Kölner Dom ein Boot.
Das Erzbistum Köln hat das sieben Meter lange Flüchtlingsboot gekauft, auf dem libysche Schlepper bis zu 100 Flüchtlinge über das Mittelmeer transportiert haben und es umständlich aus Italien nach Köln schaffen lassen. Die Menschen können es sehen und anfassen. Sie werden dadurch berührt, obwohl sie die Fakten aus den Nachrichten doch zur Genüge kennen. Ein Fall von Visual Thinking. Die Besucher der Domplatte „begreifen“ die Situation der Bootsflüchtlinge unmittelbar, mit ihren Augen und ihren Händen.
Auch die Initiatoren haben mit der Idee, das Elend der Flüchtlinge in Form eines wackeligen und modrigen Bootes nach Köln zu holen, anschauliches „Denken“ bewiesen.
Visual Thinking bedeutet Denken mit den Sinnen
Sinnlich lässt sich etwas besser begreifen, wie im Fall des Flüchtlingsbootes vor dem Kölner Dom. Es kann auch dabei helfen, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, Unterschiede oder Strukturen zu entdecken. Visual Thinking kann aber noch mehr: Mit den Sinnen lässt sich umgestalten, entwickeln, nachdenken und erfinden. Archimedes sagt man nach, das physikalische Prinzip des Auftriebs durch eine sinnliche Beobachtung entdeckt zu haben, nachdem er bei einem genüsslichen Wannenbad feststellte, dass umso mehr Wasser aus der Wanne schwappte, desto tiefer er hineintauchte. Wenn Designer Entwürfe entwickeln, verwerfen und neu gestalten, dann denken sie mit ihrem Bleistift oder ihrer Computermaus – ganz ohne Worte.
Im Business scheint Visual Thinking im Trend zu liegen. Da werden Powerpoint Präsentationen mit selbst erstellten Bildern aufgehübscht, Graphic Recorder begleiten zeichnenderweise Meetings und Workshops, Ideen werden mit „Design Thinking“ entwickelt, unzählige Weiterbildungen bieten an, in kürzester Zeit das Denken mit den Sinnen zu lernen. Was ist damit aber eigentlich gemeint? Wie in aller Welt kann man mit den Sinnen denken. Ist Denken nicht an Worte und die Sprache geknüpft?
Der Begründer des Visual Thinking: Rudolf Arnheim
Die Antwort darauf liefert einer der wichtigsten Urväter des Visual Thinking: Rudolf Arnheim. Der deutsch-US-amerikanische Psychologe veröffentlichte 1968 das Buch „Visual Thinking“, während er Professor für Kunstpsychologie an der Harvard Universität war und begründete darin das anschauliche Denken theoretisch. Von Arnheim liest man im Zusammenhang mit Visual Thinking heute leider sehr wenig. Ein Blick in seine Arbeiten zeigt aber, dass anschauliches Denken viel umfassender gemeint war und nicht mit Visualisierung verwechselt werden sollte. Das Fundament von Visual Thinking steckt dabei in einer einfachen Formel: Wahrnehmen = Denken = Gestalten.
- Wahrnehmen = Denken
Als Gestaltpsychologe geht Arnheim davon aus, dass wir die Welt nicht wahrnehmen, indem wir die Umwelt mit den Augen abtasten und aus einzelnen Sinneseindrücken ein Gesamtbild zusammenflicken. Vielmehr begreifen wir auf Anhieb das für uns Wesentliche. Wir erkennen einen Hund auf Anhieb als Hund, ohne zuerst die Details unserer Wahrnehmung zusammensetzen zu müssen (gut, manche Hunde erinnern vielleicht auch an einen Flokati). Auch ein Viereck erkennen wir sofort als Viereck, ohne die vier Seiten zählen zu müssen (dass dies nicht selbstverständlich ist, weiß man von Menschen mit bestimmten Hirn-Läsionen – sie müssen tatsächlich erst die Seiten zählen). Dies liegt daran, dass wir uns nicht an Details orientieren, ebenso wenig an den Konturen oder äußeren Umrissen der Dinge, sondern an einer ganzheitlichen Eigenschaft, die sich aus der inneren Struktur der Dinge ergibt. Sie „sagt“ uns sofort, um was es sich handelt: Gestalten. Dass wir in zwei Strichen und zwei Punkten ein Gesicht sehen, hat mit der Beziehung der Teile zueinander zu tun, nicht mit der äußeren Form (die im Beispiel auch gar nicht vorhanden ist). Gestalten sind nicht die kleinen Figürchen aus den Lehrbüchern, sondern dieses Strukturgerüst und seine Spannungen.
Solche Gestalten – und hier liegt der springende Punkt für jegliche Form von Visual Thinking – stehen damit nicht nur für das konkrete wahrgenommene Ding, sondern immer auch für einen ganzen Ding-Typ: Dem Hundhaften oder Viereckigen an sich. Arnheim nennt dies einen „Wahrnehmungsbegriff“. In unserer Entwicklung beobachten wir etwa nicht zuerst z.B. viele dreieckige Dinge, aus denen wir dann irgendwann einen abstrakten Begriff „Dreieck“ bilden. Der Prozess verläuft umgekehrt, vom Allgemeinen zum Besonderen: Am Anfang steht die unmittelbare Erfahrung des Dreieckigen (die Gestalt), bevor wir dann die Dreieckigkeit in verschiedenen dreieckigen Dingen wiedererkennen und weitere Details erfassen. Auch das kleine Kind lernt zunächst, das „Hundhafte“ zu sehen, bevor es in der Lage ist, zwei Hunde voneinander unterscheiden zu können. Dies deckt sich übrigens auch sehr gut mit Erkenntnissen der Hirnforschung, insbesondere über die Arbeitsweise des visuellen Cortex (so sind vermutlich spezialisierte Detektor-Zellen, die nur auf Kanten, nur auf rechte Winkel, oder nur auf Bewegung, Farben etc. reagieren, sowie sog. hyperkomplexe Zellen verantwortlich für diese Eigenart der Wahrnehmung – aber das nur am Rande).
Wahrnehmen ist daher immer anschauliches Denken, ein Denken in (abstrakten) Wahrnehmungsbegriffen. Wenn wir für etwas keinen Wahrnehmungsbegriff haben, können wir es auch nicht denken und nehmen wir es nicht wahr. Wahrnehmungsbegriffe sind auch der Grund für den sog. Isomorphismus: Wir sehen Ähnlichkeiten zwischen Dingen, die oberflächlich wenig gemeinsam haben, weil wir gewissenmaßen den gleichen Wahrnehmungsbegriff „anwenden“. Eine Trauerweide mit ihren hängenden Ästen wirkt traurig, weil das Kraftlose, Gedrückte und Sich-hängen-lassende auch am Gefühl der Trauer das Wesentliche – ihre Spannung und ihre Gestalt – ist.
- Denken = Wahrnehmen
Umgekehrt ist jedes Denken sinnlich, das logische wie das intuitive Denken. Es erfolgt immer mithilfe von Vorstellungsbildern. Wenn man das Wort „Hund“ sagt, hat man zugleich den Wahrnehmungsbegriff „Hund“ vor seinem inneren Auge: Kein konkreter, kein bestimmter Hund, sondern Hundhaftes, die Gestalt des Hundes. Das Wort Hund ist nur das sprachliche Etikett, das wir auf diesen anschaulichen Begriff kleben, um uns leichter mit anderen über unsere Vorstellungsbilder zu verständigen. Daher sind Vorstellungsbilder auch viel vager als konkrete wahrgenommene Dinge und uns oft auch gar nicht bewusst. Dieses anschauliche Denken in Gestalten braucht nicht unbedingt Worte, wir können auch rein in Vorstellungsbildern bzw. Wahrnehmungsbegriffen denken. Denken bedeutet, dass wir probeweise mit unseren inneren Vorstellungsbildern operieren (Probehandeln): Sie umstellen, in eine andere Reihenfolge bringen, anders verknüpfen etc.
Beim intuitiven Denken wird dies deutlicher als beim logischen, da wir intuitiv mit Worten nicht weit kommen. Für den Psychologen Friedrich Heubach ist das intuitive Denken eine andere Form der Kognition als das diskursive (logische) Denken. In beiden Fällen geht es darum, Sinn, Ordnung und Zusammenhang in der Welt herzustellen (Kognition) – nur folgt das intuitive Denken einer anderen – anschaulichen – Logik. Am besten lässt sich dies an einer Aufgabe verdeutlichen, die nur intuitiv zu lösen ist: Stellen Sie sich die beiden Politiker Anton Hofreiter und Wolfgang Schäuble als Gabel oder Löffel vor. Welches Besteck ist Hofreiter, und welches Schäuble? Intuitives Denken funktioniert nur anschaulich – in Wahrnehmungsbegriffen.
- Gestalten = Denken
Wenn der Designer – oder der Künstler oder auch der Techniker, der eine Konstruktionszeichnung anfertigt – probeweise verschiedene Entwürfe erstellt, dann ist dies ebenfalls Denken mit den Händen, mit dem Zeichenstift oder der Computermaus: Anschauliches Denken ohne Worte.
“Meine früheren Arbeiten hatten mich gelehrt, dass das künstlerische Schaffen eine Erkenntnistätigkeit ist, in der sich Wahrnehmen und Denken untrennbar vereinen. Ich konnte nicht umhin festzustellen, dass, wenn jemand malt, dichtet, komponiert oder tanzt, er mit seinen Sinnen denkt. Diese Einheit von Wahrnehmung und Denken war, wie sich herausstellte, keine Sondereigenschaft der Künste (…) Und umgekehrt gibt es viele Belege dafür, daß alles wirklich produktive Denken, ganz gleich auf welchem Gebiet, in Sinnesvorstellungen vor sich geht.“ (Rudolf Arnheim, 1974, S. 9)
Manchen Dingen sieht man an, dass sie nur mit anschaulichem Denken entwickelt werden konnten. Beim sog. Freischwinger-Stuhl im Bauhaus-Design wurde das Gefühl einer ganzen Epoche – die Angespanntheit und Aufbruchsstimmung des frühen zwanzigstes Jahrhundert – in einem Möbelstück verdichtet. Man muss sich nicht einmal darauf setzen, sondern spürt schon beim Betrachten die Bewegung und Anspannung, die in der Form steckt.
Ein lustiges Beispiel für missglücktes anschauliches Denken ist die Gestaltung eines relativ neuen Verkehrszeichens. Es soll Parkplätze kennzeichnen, auf denen Carsharing-Kunden kostenlos parken dürfen. Hier haben die Macher offenbar nicht anschaulich nachgedacht. Vermutlich hat der Google Übersetzer ausgespuckt, dass „sharing“ auf deutsch „teilen“ heißt, also teile man das Auto in der Mitte (und mir fällt der Witz ein: „Moses teilt das Meer, auf Facebook“). Wir begreifen aber ein Verkehrsschild nicht als Bilderrätsel á la Zimmer frei, sondern mit Wahrnehmungsbegriffen. Welcher Wahrnehmungsbegriff kommt hier zu Anwendung? Was könnte das Wesentliche, also das Strukturgerüst und seine Spannungen hier sein? Vielleicht streiten sich hier Männer und Frauen nach einer Scheidung um das Auto und zerren an ihm. Oder das Auto kann sich nicht entscheiden, zu welchem Fahrer es möchte. Man weiß es nicht.
Was heißt das für das Visual Thinking im Business?
Eine Beschäftigung mit Arnheim lehrt, dass das Denken mit den Sinnen kein Sonderbereich unseres Denkens ist, mit dem man ein Meeting oder einen Entwicklungsprozess nur ein wenig anschaulicher macht. Es ist so grundlegend und so unvermeidbar, dass es eigentlich viel stärker in allen Prozessen umgesetzt werden sollte, in denen „gedacht“ wird und in denen es um das „Wesentliche“ geht: Forschen, Verstehen, Entwickeln, Entwerfen, Erfinden:
- Bilder in Präsentationen visualisieren nicht etwas Gesagtes oder Geschriebenes – sie zeigen „das Wesentliche“. Sie stellen dem Zuhörer einer Präsentation das Flüchtlingsboot vor den Dom statt nur davon zu berichten.
- Visuelle Verfahren in der Forschung (z.B. Marktforschung) sind kein nettes Beiwerk, sondern eine Methode, die das „Wesentliche“ erfasst: Die Wahrnehmungsbegriffe, die tatsächlich handlungsleitend und als implizites Wissen nicht abfragbar sind.
- Durch den Einsatz sinnlicher Methoden ist auch jedes Forschen bereits automatisch Gestalten und Entwickeln – und damit unvermeidbar lösungsorientiert.
- Ebenso sind alle kreativen Entwicklungsprozesse immer anschauliches Denken, seien es Designentwürfe, technische Entwicklungen oder Produktinnovationen (s.a. auch die Ergebnisse einer Studie mit Berufskreativen). Gut, es sei denn, man möchte, dass am Ende ein Carsharing-Schild dabei herauskommt wie im Beispiel oben.
Die Kompetenz, die dafür erforderlich ist, ist nicht unbedingt das Zeichnen-Können. Es ist das Denken mit den Sinnen. Das ist es auch, was Gestaltungsprofis, z.B. Designer und Künstler, in ihrer langjährigen Ausbildung lernen. Zeichnen zu können, kann aber äußerst hilfreich dafür sein, das anschauliche Denken einzuüben und zu praktizieren. Als Zeichner lernt man, zunächst das „Wesentliche“ einer Gestalt zu zeichnen, seine Struktur und seine Spannungen, bevor man Details und Konturen hinzufügt.
Auch ist es kaum möglich, längere und komplexe (anschauliche) Denk-Prozesse durchzuführen, wenn man nicht in der Lage ist, die flüchtigen Vorstellungsbilder immer wieder zeichnerisch festzuhalten, um sie anzuschauen, mit anderen Entwürfen zu vergleichen oder im Team mitzuteilen. Es reichen hierzu auch keine Strichmännchen – das wäre so, als würde man auf der verbalen Ebene in Babysprache denken. Visual Thinking benötigt einen großen „Wortschatz“ an Wahrnehmungsbegriffen und eine reiche Palette an Ausdrucksmöglichkeiten.
Es muss daher auch die Frage erlaubt sein, ob Visual Thinking ohne weiteres in zwei Tagen Workshop erlernt werden kann – wie dies für das sog. „Design Thinking“ derzeit angeboten wird. Auch die Praxis, Designer oder Design-Studenten als „Handlanger“ mit ins Team zu holen, schafft noch kein Visual Thinking. Erst wenn die Designer an den entscheidenden Stellen anschaulich „mitdenken“, handelt es sich um echtes Visual Thinking – und nicht einfach um Visualisierung.
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Wer sich eingehender mit dem Thema Visual Thinking befassen möchte, dem seien die beiden Klassiker von Rudolf Arnheim empfohlen:
Arnheim, Rudolf: Anschauliches Denken: Zur Einheit von Bild und Begriff
Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen: Eine Psychologie des schöpferischen Auges
Mehr über Visual Thinking erfahren Sie demnächst auch in unserem Buch „Wie Design wirkt“, das im Oktober diesen Jahres im Rheinwerkverlag, Bonn erscheinen wird (also, sagen wir mal so, wir sind sehr optimistisch, dass wir es bis Oktober schaffen werden).
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